Vom Albtraum zur Selbstständigkeit
19.11.2022
Glück im Unglück
Gabriele Schmidt ist seit Februar 2021 selbstständige Unternehmerin im 14. Wiener Gemeindebezirk. Unterstützt von zwei Mitarbeiterinnen schupft die 51-Jährige ein Tabakfachgeschäft an der Ecke Reinlgasse-Fenzlgasse, 1140 Wien. Geplant war dieser Karriereschritt wahrlich nicht, vielmehr hat das Leben die energische Wienerin auf holprigen Umwegen ins eigene Glück geführt.
Zukunftsträume.
Als Kind träumte Gabriele Schmidt davon als Stewardess durch die Welt zu reisen und als Jugendliche wollte sie Dolmetsch studieren. Doch schon damals musste die sprachgewandte Frau feststellen, dass das Leben alles andere als ein Wunschkonzert ist und begann – nicht ganz freiwillig – mit 16 Jahren ohne große Begeisterung eine Lehre als Industriekauffrau in einer Druckerei. Rasch war klar, dass ihre Ziele viel höhergesteckt waren und mit Hartnäckigkeit und Fleiß schaffte sie den Weg an die Spitze. Nach einigen Jahren als Assistentin der Geschäftsführung wurde Gabriele Schmidt selbst Geschäftsführerin und wechselte später in dieser Position zu namhaften Konzernen.
Tagtraum.
Zum beruflichen Erfolg hatte sich schon früh das private Glück gesellt und Gabriele Schmidt wurde Mutter. In der Zeit nach der Geburt machte sie oft lange Spaziergänge mit der Tochter und den Hunden beim Wilhelminenberg. Und genau hier, erinnert sich die Wienerin zurück, hatte sie einen Tagtraum, der im Nachhinein wie eine Vorahnung erscheint: „Jedes Mal, wenn ich an der einen Trafik vorbeigegangen bin, habe ich mir vorgestellt, wie schön es wäre, selbstständige Unternehmerin zu sein und dieses kleine Geschäft zu führen. Ich habe es mir schön vorgestellt nicht mehr angestellt zu sein, frei entscheiden zu können und den Weg bestimmen zu dürfen.“
Da aber – damals wie heute – alle freiwerdenden Trafiken ausschließlich an Menschen mit Behinderungen vergeben werden, war eine Trafik für die gesunde Frau keine mögliche Alternative und somit bald vergessen.
Albtraum.
Das Leben der Karrierefrau und Mutter drehte sich ständig weiter und erst ein Traumurlaub in Sardinien sollte alles ändern. Wie jedes Jahr war die sommerliche Auszeit von eindrucksvollen Motorradausflügen über die wunderschönen Bergstraßen der Mittelmeerinsel geprägt – und die Wahrscheinlichkeit, dass nach der nächsten Kurve noch ein schönerer Aussichtspunkt sein würde, war groß. Doch ein entgegenkommender LKW in einer Kurve beendete den Traum. Ausweichen war nicht mehr möglich, zu knapp war der Abstand. Der schwere Unfall war nicht mehr vermeidbar. „Danach war alles anders, ich war völlig außer Gefecht gesetzt, schwer verletzt“, blickt die Trafikantin zurück. Und es sollte noch schlimmer kommen. Im Jänner 2017 hatte sie einen Herzinfarkt und es folgte eine sechsstündige Operation, die aussichtslos schien. Die Ärzte reanimierten Gabriele Schmidt zweimal und ihre Tochter und Mutter wurden auf die Intensivstation gebracht, um sich von ihr verabschieden zu können.
„Aber, ich habe, wie Sie sehen, doch überlebt" sagt die Trafikantin mit einem Lächeln im Gesicht, „musste mein Leben aber von Grund auf umkrempeln." Und das dauerte in ihrem Fall dreieinhalb Jahre und war von endlosen Aufenthalten in Kliniken und Rehabilitationszentren überschattet. Bis wieder so etwas ähnliches wie Alltag in ihr Leben einkehrte, waren es harte Tage und schmerzhafte Erfahrungen. Und bis die Frage der beruflichen Zukunft – und damit verbunden auch die Erinnerung an die Idee von der kleinen Trafik am Fuße des Wilhelminenbergs wieder auftauchte, brauchte es noch mehr Zeit.
Lebenstraum.
"Ich wurde nach dem Unfall Mitglied beim österreichischen Behindertenverband und informierte mich laufend bei der MVG über freie Trafikstandorte. Das Geschäft am Wilhelminenberg war leider nie dabei, aber nach drei Jahren wurde ich in der Reinlgasse – nur zehn Minuten entfernt von meiner Wohnung – fündig, habe mich beworben, bekam den Zuschlag und wurde nach der Schulung in der Trafikakademie Tabakfachhändlerin. Die wohl beste Entscheidung, die ich je getroffen habe“, gesteht sich Gabriele Schmidt rückblickend ein.
Nach der langen Genesungszeit ist das jetzige Leben für die Geschäftsfrau ein wohltuendes Trostpflaster. Soziale Interaktion mit den Kundinnen und Kunden, kreative Ideen für die Shopgestaltung, aktiver Jugendschutz und die Möglichkeit selbstständig berufliche Erfolgsentscheidungen zu treffen sind die Punkte, die die Trafikantin primär als spannende Punkte ihrer jetzigen Tätigkeit aufzählt. Auch wenn die ersten Monate anstrengend waren: „Ich stand 60 Stunden pro Woche allein im Geschäft, aber es hat Spaß gemacht und ich war endlich wieder glücklich.“
Und Glück scheint ansteckend zu sein, denn „bereits am zweiten Tag nach der Eröffnung hat ein Kunde 1.000 Euro gewonnen und so ging die Glückssträhne weiter. Mittlerweile hatte ich schon vier größere Gewinne auszahlen dürfen und die Lotterien haben meine Trafik ausgezeichnet.“
Traumhaft.
Gabriele Schmidt hat nach ihrer langen Krankheit den Schritt zur Trafikantin gewagt und ihr Leben zurückgewonnen. Allen Zweiflern und Kritikerin an ihrer Entscheidung tritt sie heute stolzer denn je gegenüber: „Wenn ich es nicht versucht hätte, hätte ich nie sagen können, ob ich es schaffe und ob ich es mag. Heute kann ich mit Überzeugung sagen, dass ich überglücklich bin und nur jedem raten kann: ‚Versuche es‘! Trafikant zu sein, bedeutet viel mehr als Zigaretten verkaufen. Ich bin Unternehmerin, ich trage Verantwortung, ich biete meinen Kundinnen und Kunden das beste Service und ich habe ein offenes Ohr für ihre Sorgen.“
Heute ist die zweifache Großmutter mit abgeschlossenem ESA-Studium einfach zufrieden und fasst kurz und bündig zusammen: „Mein Akku ist wieder geladen und vor allem bin ich rundum glücklich“.
Bild und Text ©MVG 2022